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Laut Gerichtsurteil diskriminiert Österreich Schulkinder mit Behinderung - Andi - 01.05.2023

GERICHTSURTEIL
Laut Gerichtsurteil diskriminiert Österreich Schulkinder mit Behinderung
Der Grund: Nur wer körperlich behindert ist und eine hohe Pflegestufe hat, erhält in Bundesschulen die Persönliche Assistenz. Das Ministerium will rasch reagieren


Jugendliche, die etwa eine Autismus-Spektrum-Störung haben, haben derzeit keinen Anspruch auf individuelle Assistenz zum Schulbesuch.


Die Republik Österreich diskriminiert Schülerinnen und Schüler mit Behinderung. Das ist die Essenz eines Urteils des Handelsgerichts Wien vom 31. März, mit dem einer Klage des Klagsverbands zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern vollumfänglich recht gegeben wurde. Die Republik verstößt demnach gegen das gesetzliche Diskriminierungsverbot, weil es derzeit die "Persönliche Assistenz" für den Besuch von Bundesschulen (AHS und BHS) nur für Kinder und Jugendliche mit körperlichen Behinderungen und einer hohen Pflegestufe (ab Stufe 5, in Ausnahmefällen ab Stufe 3) gibt.


"Richtungsweisend"
Die Geschäftsführerin des Klagsverbands und Juristin Theresa Hammer nennt dieses Urteil im STANDARD-Gespräch "richtungsweisend" und fordert: "Der Bildungsminister muss jetzt handeln und bedarfsgerechte Unterstützung für alle Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen sicherstellen."

Hintergrund der ersten Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz ist ein Rundschreiben des Bildungsministeriums zur "Persönliche Assistenz für Schülerinnen und Schüler mit Körperbehinderung in Einrichtungen des Bundes", die darin aus Sicht der Betroffenen viel zu eng gefasst, nicht bedarfsgerecht und damit diskriminierend ist. Dieser Ansicht folgte das Gericht in allen Punkten, die eingeklagt wurden. Woran wird die Diskriminierung festgemacht?


Andere als körperliche Behinderungen Persönliche Assistenz ist aktuell an eine körperliche Behinderung gebunden. Demzufolge haben Kinder und Jugendliche etwa aus dem Autismus-Spektrum, mit einer Sinnesbehinderung oder einer geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung keinen Anspruch auf diese Unterstützung – "obwohl diese die fachlich-inhaltlichen Voraussetzungen für die von ihnen angestrebte Ausbildung haben und sie mit Unterstützung einer erforderlichen und geeigneten persönlichen Assistenz in der Lage wären, eine vom Bund erhaltene höhere Schule oder vom Bund erhaltene Pflichtschule zu besuchen".
Im Urteil wird in der Erläuterung der Entscheidungsgründe das Beispiel eines 14-jährigen Buben mit Asperger-Syndrom und klinisch festgestellter Hochbegabung vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich dargelegt. Er erhält an einer Mittelschule (Pflichtschule in Landeszuständigkeit) 20 Stunden Persönliche Assistenz. Aufgrund seiner schulischen Leistungen könnte er die Oberstufe "unproblematisch" besuchen, ist aber durch sein Syndrom leicht abgelenkt und auf eine "dichte Begleitung" angewiesen. Die Assistenz beruhigt ihn zum Beispiel, wenn er bei Überforderung summt oder repetitive Bewegungen macht. Ohne Assistenz bleibt diesem Kind der Weg ins Gymnasium verwehrt.
Das kürzlich gestartete Projekt, acht Stunden Assistenz für Kinder im Autismus-Spektrum, lasse, so das Gericht, nach wie vor "etliche Kinder" ohne Unterstützung.

Behinderungen mit geringer Pflegestufe Körperlich behinderte Kinder und Jugendliche mit niedriger Pflegestufe werden durch das Rundschreiben des Bildungsressorts von Assistenzleistungen ausgeschlossen – und damit diskriminiert.

Unterrichts- und Schulveranstaltungen Das Gericht stellte auch eine Diskriminierung fest, weil Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen nicht durchgehend Persönliche Assistenz für die Teilnahme an allen Unterrichts- und Schulveranstaltungen gewährt wird. Zwar gibt es diese in der Zwischenzeit für mehrtägige Veranstaltungen, aber Freistunden und befreite Fächer sind nach wie vor von der Assistenz ausgenommen.


Beim Klagsverband schätzt man, dass derzeit "einige hundert" Kinder und Jugendliche mit Behinderung betroffen sind, also Persönliche Assistenz zum Schulbesuch benötigen. Außerdem freut man sich über die explizite Betonung des Selbstbestimmungsaspekts im Urteil, wo es heißt: "Die persönliche Assistenz verschafft den betroffenen Schüler:innen Selbstbestimmung." Das zeige, dass Stützlehrkräfte, die das Ministerium zu seinen Gunsten vorbrachte, nicht gleichzusetzen seien mit individueller Assistenz.

Bildungsministerium will Urteil rasch umsetzen
Wie geht es jetzt weiter? Die Finanz-Prokuratur, die als "Anwalt der Republik" das Bildungsministerium vertritt, könnte das erstinstanzliche Urteil beeinspruchen – tut sie aber nicht. Denn wie das Büro von Minister Martin Polaschek (ÖVP) auf STANDARD-Anfrage am Mittwoch mitteilte, werde man keine weiteren rechtlichen Schritte setzen, sondern das Urteil "rasch umsetzen und die gerichtlich festgestellten Mängel beheben".

Das ursprünglich aus 2017 stammende Rundschreiben – damals war Sonja Hammerschmid (SPÖ) Ressortchefin – werde entsprechend angepasst. "Wir wissen um den Leidensdruck der Eltern. Darum ist das auch ein wesentliches Thema für das Ressort", teilte Polaschek mit.

Aus aktuellem Anlass nannte das Ressort beispielhaft etwa technische Hilfen für Maturierende wie spezielle Höranlagen und Software sowie Braille-Zeilen und mehr Zeit für Abschlussprüfungen. (Lisa Nimmervoll, 27.4.2023)

https://www.behindertenarbeit.at/119116/gerichtsurteil-es-braucht-gleiche-zugangsmoeglichkeiten-fuer-alle-kinder-mit-behinderung/